Einsame Höhen

Über Bergbilder am Anbeginn des 20. Jahrhunderts

Leo Blechs Oper »Alpenkönig und Menschenfeind« gibt Gelegenheit, sich einmal mit den Eindrücken der Bergwelt in der Musik zu beschäftigen und diese einzuordnen.

»Wohin ich geh‘? Ich geh‘, ich wandere in die Berge.
Ich suche Ruhe für mein einsam Herz!«

- Gustav Mahler, »Das Lied von der Erde«

Alpenkönig und Menschenfeind, die im Jahre 1903 uraufgeführte Oper Leo Blechs, führt die Geschichte einer Läuterung an: Durch die Begegnung mit Astragalus wird Rappelkopf, ein ebenso misstrauischer wie missgünstiger Misanthrop, bekehrt. Obgleich auf einem romantisch-komischen Original-Zauberspiel
Ferdinand Raimunds (1790-1836) beruhend, führt dieser Stoff unter veränderten Vorzeichen in die unmittelbare Entstehungszeit der Oper; hatte der Dramatiker sein Werk noch in dem Sinne des Besserungsstückes begriffen, dass sich in der Zeit des Biedermeiers gewisser Beliebtheit erfreute[1], so trat in der Kulturwelt des beginnenden 20. Jahrhunderts das mystische Element der Bergwelt wieder hervor. Bei dieser Gelegenheit muss jedoch zwischen dem Alpinismus, einer Begeisterung für das Bergsteigen und die alpine Natur, und der naturphilosophischen, bisweilen wohl auch pantheistischen Betrachtung der Berggipfel unterschieden werden. Auf eine Vielzahl von Kunstschaffenden übte der Eindruck der alpinen Umgebung sowohl gedanklich, als auch künstlerisch inspirierend. Weiterhin sei ein Überblick über die verschiedenen ästhetischen Positionen dieser Jahre gegeben.

Richard Strauss hat mit der 1915 zur Uraufführung gelangten Alpensinfonie op.64 gewiss eine der bekanntesten ›Bergmusiken‹ vorgelegt. Von den Überlegungen Franz Liszts ausgehend, hatte er mit der Gattung der Sinfonischen Dichtung den Versuch unternommen, die innere Bewegtheit und Handlung von literarischen und philosophischen Werken in die Musik zu überführen. Beispiele dieser Art von Programmmusik bilden etwa Also sprach Zarathustra und Don Quixote. In der letzten seiner Tondichtungen wandte er sich jedoch einer Episode aus seiner Kindheit zu und schilderte mit den Mitteln des spätromantischen Orchesters eine Wanderung in den Bergen, die von verschiedenen Naturerscheinungen begleitet wird. Skizzen deuten darauf hin, dass hier zunächst ein philosophisches Werk geplant war, dass sich dem Leben und Schaffen des Malers und Bergsteigers Karl Stauffer-Bern widmete. Erhalten hat sich zuletzt jedoch eine Komposition, die ihren dramaturgischen Gehalt durch den Auf- und Abstieg eines Wanderers im Gebirge bezieht. So tragen die einzelnen Abschnitte Überschriften wie ›Wanderung neben dem Bache‹, ›Auf dem Gipfel‹ oder ›Nebel steigen auf‹ und beziehen sich auf Phänomene der alpinen Natur, die auch klangliche Umsetzung erfahren, so zum Beispiel durch Idiophone wie Wind- und Donnermaschine. Die vorherrschende Klangkoloristik, die musikalische Verdeutlichung außermusikalischer Vorgänge, steht hier, anders als in anderen Werken Straussens, im Vordergrund.

Gustav Mahler hat nach einigen negativen Erfahrungen es unterlassen, die Programme seiner Sinfonien öffentlich mitzuteilen. Dennoch lassen sich in seiner Musik immer wieder Hinweise auf die (innere und äußere) Natur auffinden, so schon in dem Kopfsatz der ersten Sinfonie, die mit der Weisung ›Wie ein Naturlaut‹ überschrieben ist. Die Wirkung der Erscheinungen der Natur ist auch ein Thema des früher entstandenen Zyklus der Lieder eines fahrenden Gesellen. Dieses Beispiel mag deutlich machen, dass sich in Mahlers Schaffen Anknüpfungspunkte für das Naturverständnis Blechs finden lassen, dessen Oper schließlich um die Läuterung durch die Natur (stellvertretend durch die Gestalt Astragalus) handelt. Denkt man nun spezifisch über den alpinen Raum nach, so lässt sich feststellen, dass dieser in der Sinfonik Mahlers Widerhall erfährt: So lässt sich in der siebten Sinfonie der Klang von Herdenglocken vernehmen, die er den Musikern seines Orchesters mit einem Bild zu erläutern versuchte. Dabei rekurrierte er auf einen Wanderer der in den Höhen des Gebirges nurmehr das Läuten als verhallenden Erdenlaut angesichts der Ewigkeit vernimmt. Anders als in der Tondichtung Straussens geht es hier nicht um eine naturalistische Nachbildung äußerer Eindrücke, sondern um eine Erfahrung von Transzendenz, für die ein Klangbild herangezogen wird.

Eine quasi-religiöse Qualität erfährt die Bergwelt auch in Denken und Schaffen des Schönberg-Schülers Anton Webern, der nicht nur ein »chronischer Alpinist« (Heinz-Klaus Metzger) war, sondern die in diesem Raum empfangenen Eindrücke auch musikalisch umzusetzen suchte. In der Auseinandersetzung mit dem schwedischen Mystiker Emanuel Swedenborg (1688-1772) fand er zu einer geistigen Interpretation der Berge, die auch in seinem Schaffen bedeutsam wurde. Von dessen Überlegungen ausgehend gelangte er zu der Überzeugung, dass die Berge gottbegnadigte Orte seien und dort eine Reinheit vorherrschte, die sie von den Niederungen großstädtischer Zivilisation entfernte. Die Wanderungen durch das Gebirge hatten für ihn schließlich auch eine besondere Bedeutung, wie er einmal gegenüber Schönberg bekannte:

»… das seltsame auf den Höhen der Berge, dieses zarte und reine, das zieht mich. Das Gehen ist ja fad, aber – aber oben! Die Einsamkeit und das Ringen mit Gott. Allen Treck abstreifen.«[2]

Leo Blech nimmt unter den hier vorgestellten Komponisten eine eigene Position ein. Anklänge an die schwarze Romantik lassen die Erzählungen vermuten, wie sie auch in Blechs Musiktheater noch tradiert werden. (Wer dem Alpenkönig begegnet, so heißt es einmal, altert unmittelbar um vierzig Jahre). Hier schließt der Komponist an vorangegangene Vorbilder an, nicht zuletzt an Webers Freischütz, aber auch an Heinrich Marschner und dessen heute nur selten zu hörende Oper Hans Heiling. Rappelkopfs Befreiung von Misanthropie und Missgunst durch die Begegnung mit (einem Wesen) der Bergwelt weist hingegen auf einen tieferen Sinn dieses Raumes hin, der in freilich anderer Form auch bei Mahler und Webern gegenwärtig ist. Blechs Werk deutet somit gleichermaßen in die Vergangenheit und in die Gegenwart der Entstehungszeit.

 

[1] So lässt sich der Alpenkönig Astragalus nicht zuletzt auch als Verkörperung der Vernunft begreifen.

[2] Webern an Schönberg, Brief aus dem Jahre 1910